„Wärmegewitter“: Eine Entzauberung

Gewitter am 22. August 2012 nahe Wien

Ich hab das sicherlich schon an einer anderen Stelle thematisiert, aber es gibt selten so gute Beispiele wie heute, um aufzuzeigen was ich meinte. Es geht um den vor allem im Funk- und Fernsehen so beliebten Begriff des „Wärmegewitters“ bzw. „Hitzegewitters“. Dieser soll signalisieren, dass die Gewitter sich an einem heißen Sommertag scheinbar zufällig irgendwo materialisieren und entsprechend unberechenbar sind. Sie führen zu den „vom Gewitter überraschten“ Bergsteigern, aber auch bisweilen überraschten Vorhersagern, die sich nicht erklären können, warum es heute am Ort A gewittert hat und nicht in B. Man bezeichnet sie auch gerne als „Luftmassengewitter“, um zu signalisieren, dass sie in einer homogenen Luftmasse entstehen, wohingegen Frontgewitter an eine Luftmassengrenze gebunden sind. Von der US-amerikanischen Gewitter- und Tornadokoryphäe Chuck Doswell habe ich schon vor bald 20 Jahren gelernt, dass diese Gewitter-Einteilung künstlich ist, weil es immer einen äußeren Antrieb für Gewitter gibt. Sie entstehen niemals zufällig. Es gibt immer eine Art Gradient oder Front oder Trog als Antrieb. Wenn man sich Gewitter nicht erklären kann, hat man nicht genau genug nach den Ursachen gesucht.

„An old idea is that thunderstorms are either of the „frontal“ sort, or the „air mass“ sort. This terminology seeks to distinguish between thunderstorms along fronts (zones of strong thermal gradients) from other sorts of thunderstorms. The idea is that fronts provide a lifting mechanism to develop convection, whereas other thunderstorms develop within broad areas of more or less homogeneous characteristics (air masses). It also is often taken to imply that the thunderstorms develop more or less randomly in the „air mass,“ as opposed to the organization provided by the front. I believe that many thunderstorms develop outside of surface frontal zones (i.e., synoptic-scale fronts). Moreover, the development of thunderstorms is never random … they develop in particular places at particular times for reasons that we may not be able to observe and/or understand, but it is absurd to think that thunderstorms develop, in effect, for no reason!“

Chuck Doswell, Pet Peeves (2002), (Seite leider nicht mehr aufrufbar, Zitat aber rechtzeitig gespeichert)

Der Sonntag, 20. August 2023, ist ein gutes Beispiel für einen vermeintlich stabilen, hochsommerlich warmen Tag, an dem scheinbar zufällig im Grenzbereich Wald- und Weinviertel sowie im Randgebirge östlich der Mur einzelne Gewitter am frühen Nachmittag entstanden sind. Schon die Lokalität sollte zu denken geben, denn in der zweiten Augusthälfte ist die Luftschichtung über dem Flachland in der Regel bereits zu stabil, um Gewitter zu produzieren. Das Randgebirge östlich der Mur profitiert eher noch von alpinem Pumpen (das Randgebirge erwärmt sich stärker als das Flach- und Hügelland und saugt für mäßige Taleinwinde, da das Druckgefälle zur Heizfläche hin gerichtet ist), aber auch das alleine reicht nicht für Gewitterbildung.

Ausgangslage:

Abb.1.: Bodenwetterkarte für Sonntagmittag mit Isobaren und Fronten (rot ca. Österreich), rechts Profikarten mit 500 hPa Druckfläche, Bodendruck und Temperatur in 500 hPa, Quelle: wetter3.de/wetterzentrale.de

Der Laie sieht auf der Bodenwetterkarte (links) ein ausgedehntes Bodenhoch von der Biskaya bis Deutschland, an dessen Südostflanke Österreich liegt. Die näheste Front ist eine verwellende Front über Frankreich und Norddeutschland, die keinerlei Einfluss mehr auf den Alpenraum hat. Der Profi sieht rechts ebenfalls den höheren Luftdruck (1020 hPa – Isobare), vor allem aber das kräftige Höhenhoch mit dem extrem hohen Geopotential über Südwesteuropa und den Keilausläufer über der Schweiz bis Österreich und Tschechien. Das wirkt auf den ersten Blick doch ziemlich stabil. Die Temperatur-Isolinien in der Höhe sind zu grob aufgelöst, um etwas sinnvolles davon abzuleiten.

Schauen wir in eine feinere Auflösung dank Kachelmannwetter:

Abb2: Temperatur in 500 hPa (ca. 5,6km Höhe) um 14 Uhr MESZ (Quelle)

Da sieht man nun deutlich eine schmale, weit nach Süden reichende Ausstülpung mit etwas kälterer Luft (minus 9°C) als in der Umgebung. Deutlich wärmer ist die Luft über Frankreich mit minus 5°C. Dieser Kaltluftsack in der Höhe wird thermischer Trog genannt. Wenn sich die heiße Bodenluft und die Kaltluft in der Höhe überlagern, entsteht ein vertikales Temperaturgefälle, das zu einer instabilen Luftschichtung führt. Instabilität ist eine wesentliche Zutat für die Gewitterbildung. Hitze in Bodennähe reicht dafür nicht aus.

Das zeigen exemplarisch die gemessenen Vertikalprofile nahe dem Hochdruckzentrum (Payerne) bzw. im Bereich der Höhenkaltluft (Prostejov) über dem Osten von Tschechien.

Abb.3. Wetterballonaufstiege von Payerne (Schweiz, links) und Prostejov (Tschechien, rechts), jeweils am 20.08.23, 14 Uhr MESZ (Quelle: Aufstiege Kachelmann)

Der Aufstieg von Payerne ist bombenstabil. Die Luft ist bodennah sehr trocken (ca. 15°C Taupunkt) bei 32°C Lufttemperatur. Flache stabil geschichtete Wolken gibt es am ehesten an der Feuchteschicht in 600 hPa (ca. 4km Höhe). Darüber liegt die Inversion des Hochs mit kräftigem Absinken (Stabilisierung).

Der Aufstieg von Prostejov zeigt das Gegenteil: Zwar ist es am Boden ebenfalls trocken mit einer seichten Feuchteschicht, aber die Schichtung ist hochreichend labil bis ca. 11km Höhe. Dort herrschen ca. minus 50 Grad, das entspricht der Obergrenzentemperatur einer möglichen hochreichenden Quellwolke und ist mehr als ausreichend für Gewitterbildung. Die stabilisierende Absinkinversion (der warme Höcker nach rechts in ca. 550 hPa im Payerne-Aufstieg) fehlt bei Prostejov bzw. ist weiter oben zu sehen in ca. 450 hPa, aber schwächer ausgeprägt. Die schwarz punktierte Hebungskurve eines labilen Luftpakets kommt locker drüber und kann bis zur Tropopause (roter Pfeil) aufsteigen. Zwischen 700 hPa (ca. 3km Höhe) und 450 hPa (ca. 6,5km Höhe) ist die Luftschichtung zudem eher feucht und fördert damit das Wachstum einer hochreichenden Quellwolke. Mit Feuchteangebot und Labilität sind schon zwei der drei notwendigen Zutaten für Gewitter vorhanden.

Wir brauchen für Gewitterbildung aber noch eine dritte Zutat: Hebung.

Der erste Blick eines Profi-Vorhersagers geht auf seine Routinekarten:

Abb.4 500 hPa Geopotential (Isohypsen mit Isolinien statt Isoflächen) sowie 300 hPa Wind, GFS-Analyse um 14 Uhr MESZ; Quellen: wetter3.de/wetterzentrale.de

Da braucht es zugegeben schon ein sehr geschultes synoptisches Auge, um die relevanten Features herauszuarbeiten. Ich hab die ganz schwache Trogachse blau markiert, die von Polen bis Tschechien reicht. Über Ostdeutschland gäbe es eine weitere, die aber nicht wetterbestimmend war. Im Windfeld sieht man eine diffluente Strömung, mehr nicht. Nun ist das nicht sehr viel Antrieb, aber man muss dabei bedenken, dass bei hochsommerlicher Luftmasse, die schon instabil geschichtet ist, ein kleiner Antrieb zur Zündung von Konvektion ausreicht. Um bei Payerne oben Gewitter zu entfachen, bräuchte man schon einen gewaltig stärkeren Antrieb.

Deutlicher wird es, wenn man sich Antriebskarten und Wasserdampfbild direkt anschaut:

Abb.5 Relative Vorticity in 500 hPa (links) und Wasserdampfbild (rechts) jeweils um 14 Uhr MESZ (Quelle)

Die relative Vorticity (Wirbelstärke) ist ein Maß für die Hebungsgebiete (gelb, orange) und Absinkgebiete (blau) in der Höhe. Im Wasserdampfbild sieht man einen starken Gradienten von feuchter Luft (hell) zu trockener Luft (dunkel bis gelb) in der Höhe. Entlang von Gradienten („Luftmassengrenzen“) entwickeln sich gerne Hebungszonen mit Gewittern, speziell bei labiler Luftschichtung. Hier stimmen Hebungszonen aus dem Modell und im Satellitenbild gut überein. In Verlängerung reicht sie noch bis südliche Steiermark. Die Wirbelstärke ist nicht zufällig im Bereich der Tiefdruckkerne am größten, bzw. entlang von den Kaltfronten (siehe Ostsee). Solche Wasserdampfbilder sind routinemäßig zur Überwachung einer Wetterlage immer am Monitor des Meteorologen geöffnet und laufen als Loop ab.

Das Ergebnis:

Abb.6.: Sichtbarer Satellitenbildkanal und Radarbild (5-Minuten-Prognose) jeweils am 20.08.2023, 15.30 MESZ, Quelle: kachelmannwetter.com

Am Nachmittag entstanden einzelne Gewitterzellen im Weinviertel bzw. an der Grenze zum Waldviertel, sowie im Randgebirge östlich der Mur zwischen Fischbacher Alpen und Semmering. Im restlichen Österreich blieb es gewitterfrei und oftmals wolkenarm.

Nun bleiben dennoch zwei Fragen offen: Wir wissen jetzt zwar, warum die Osthälfte von Österreich gewitterbegünstigt war, nicht aber, warum es gerade dort für Gewitter gereicht hat und nicht z.B. über Wien.

Abb. 7. Wetterballonaufstieg von Wien-Hohe Warte 14 Uhr MESZ (Quelle)

Der Wien-Aufstieg ist in allen Schichten, vor allem aber im unteren und mittleren Bereich trockener als im Osten von Tschechien. Die Labilität beginnt auch erst ab ca. 650 hPa (ca. 4km Höhe). In Wien ist also vor allem nichts passiert, weil es zu trocken war, nämlich in allen Höhen. Damit war zwar Hebung vorhanden, aber die Zutat Feuchte hat gefehlt.

INCA-Windfeldanalyse vom 20.08.23, 16 Uhr MESZ (Quelle: GeoSphere Austria)

In das Windfeld hab ich händisch die Bodenwind-Konvergenzlinien eingezeichnet, wo Winde unterschiedlicher Richtung aufeinandertreffen und die Luft irgendwo hin muss, also steigt sie auf und bildet Quellwolken. Im Steirischen Hügelland werden die Konvergenzen durch Gebirgsanströmung noch verstärkt (orographische Hebung).

Das Gebiet entlang der tschechischen Grenze war begünstigt aufgrund der Nähe zum thermischen Trog, während das Randgebirge östlich der Mur, wo die Konvektion zudem schwächer ausfiel als weiter nördlich, mehr vom bodennahen Feuchteangebot profitieren konnte.

Wetterballonaufstieg von Graz-Flughafen, 20.08.23, 05 Uhr MESZ – farbig modifiziert mit den Bodenwerten von 15 Uhr MESZ (Temperatur und Taupunkt), Quelle: kachelmannwetter.com

Graz zeigt eher wie Payerne eine Absinkinversion und zudem sehr trockene Luft in mittleren und höheren Luftschichten. Zugleich hochreichend labil und recht feuchte Bodenschicht. Die Trockenheit in der Höhe verhinderte jedoch langlebige und kräftigere Gewitterzellen.

Was lernen wir daraus?

Auch ein schöner Hochdruckrücken kann konvektiv entzücken. Oder: Der Teufel steckt oft im Detail, denn einen makellosen Hochdruckkeil gibt es selten und selbst dann, wenn wie hier, die Modellperformance zu wünschen übrig ließ (EZMWF 00z-Lauf hatte zumindest schwache Signale, ICOND2 blieb stumm, GFS 00z rechnet erst spät etwas, als die Gewitter bereits zusammenfielen, andere Lokalmodelle hatten gewisse Signale), muss man aufmerksam die Karten checken und überlegen, ob Konvektion möglich ist und woran man das festmachen kann.

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