Gewitterstraßen im November: Selten, aber nicht unmöglich.

Blitzortung am Sonntag, 19.11.23 ganztägig – die meisten Entladungen gab es zwischen 17.30 und 23.30 Uhr – Quelle: lightningmap.org

Sonntag. Ich hatte frei und die Vorhersagekarten nur grob überflogen. Warmfrontdurchgang, lebhafter Westwind dahinter und deutlich milder, soweit hatte ichs notiert. Der Regen hielt sich in Wien bis 15 Uhr, dann lockerte es auf. Es schauerte dann aber nochmal kräftig für ein paar Minuten mit großen Tropfen. Komische Warmfront. Später dann die Meldung, dass es in Steyr mit einem Gewitter gehagelt habe, nach einem Video eher Graupel, aber immerhin. Das Blitzarchiv zeigt mehrere Gewitterstraßen, die nahezu strömungsparallel mit dem kräftigen Höhenwind verlaufen. Waren das jetzt „RTK-Gewitter“ im energiereichen Warmsektor wie im Hochsommer? Oder war es gar keine Warmfront? Ein Blick zurück:

Es handelt sich um eine klassische „bottom-up“-Analyse: Ich weiß nicht, was los war, trage alle Fakten zusammen und leite dann eine Schlussfolgerung daraus ab.

Frontenanalyse

Im 6-Stunden-Intervall dargestellt zeigt sich über Westeuropa ein umfangreiches Tiefdrucksysstem mit mehreren Tiefdruckkernen und Okklusionsfront, sowie Warmsektor über Mitteleuropa. Gegen Mittag griff bereits die Kaltfront auf den Norden von Österreich über, kam aber nicht südlich voran, sondern verwellte leicht. Erst in der Nacht auf Montag setzte sich endgültig die kältere Luft durch.

EZWMF-Prognose 00 UTC: 850 hPa Geopotential und ThetaE am 19.11. um 7.30, 13 Uhr, 19 Uhr und am 20.11., 01 Uhr MEZ (Quelle: kachelmannwetter.com)

Aus den Luftmassenkarten wird zumindest klar, dass sich die Region mit den Gewittern im Bereich einer Frontalzone befand, also unter frontogenetischer Querzirkulation (Hebungsprozesse).

Jetstream

Zwischen dem Hoch über dem Mittelmeerraum und dem Tiefdrucksystem über Nordeuropa herrschte eine kräftige Westströmung in der Höhe über dem Alpenraum, mit bis zu 130kt in 300hPa (ca. 9000m Höhe). Erfahrungsgemäß sorgt die Nähe zum Jetstream häufig für ein erhöhtes Gewitterrisiko.

300 hPa Stromlinien und Windgeschwindigkeit (kt) am Sonntag, 19.11.23, 19 Uhr MEZ (Quelle: wetterzentrale.de)

Labilität und Scherung

Die Temperatur- und Taupunktverteilung zeigt so etwas wie eine Zone mit erhöhter Temperatur und Taupunkt in den Gewitterregionen. Wenn man so möchte, ein „herbstlicher RTK“ (Keil der Relativen Topographie). Dort befand sich also sehr feuchte und potentiell energiereichere Luft als über den Alpen und weiter nördlich.

Temperatur und Taupunkt am 19.11.23, 20 Uhr MEZ (Quelle: Kachelmannwetter)

Das wird auch aus der Taupunktsdifferenz deutlich, die in den Gewitterregionen bei 0-3 Grad liegt:

Sonntag, 19.11.23, 20 Uhr MEZ – Taupunktsdifferenz (Quelle: Kachelmannwetter)

Das unterstreicht ebenfalls die sehr feuchte Grundschicht.

500 hPa Temperatur-Prognose von EZWMF 00z vom Sonntag, 19.11., gültig für 19 Uhr MEZ (Quelle: kachelmannwetter.com)

Interessanter wird es noch, wenn man die Höhenkaltluft betrachtet. Der thermische Trog mit der -25°C-Blase in 500hPa (ca. 5,5km Höhe) befand sich zwar mit dem Kern weiter nördlich, streifte aber noch die Region mit der feuchten Grundschicht. Hier dürfte also vorübergehend eine Überlagerung von feuchtmilder Grundschicht und Höhenkaltluft stattgefunden haben (= Labilisierung).

850 hPa Thetae und Wind, LI, EZWMF-00 UTC für 18 UTC (Quelle)

Im Österreich-Ausschnitt zeigt die Luftmassen-Prognose ein Zurückschwappen der höheren ThetaE-Werte nach Südbayern und in den Norden von Österreich. Entlang des Donauraums herrscht eine leicht konvergente Strömungslage mit Westwind entlang der Voralpen und Westnordwestwind weiter nördlich.

Demnach sind die Gewitter mit der strömungsparallelen Kaltfront bzw. knapp davor entstanden.

Prognose PWAT für 19.11.23, 20 Uhr MEZ (Quelle)

Der Gehalt des Niederschlagswassers deutet das Starkregenpotential der Schauer und Gewitter an. Bemerkenswert ist hier das gerechnete Maximum von 19mm in Oberösterreich, das über dem Durchschnitt für die Jahreszeit liegt und ein weiteres Indiz für heftigere Schauer bzw. Gewitter ist.

Radiosondenaufstiege

Leider gibt es vom Zeitraum der Gewitter keinen repräsentativen Aufstieg in der Nähe. Die Vorhersage-Aufstiege hab ich nicht rechtzeitig gespeichert. Anhand der Infrarot-Satellitenbilder konnte ich die Obergrenzentemperaturen der Gewitterwolken auslesen, sie befanden sich zwischen -35 und -44°C, meist etwas unter -40°C. Das ist für November ebenfalls überdurchschnittlich hoch und deutet auf kräftige Aufwinde hin.

Radiosondenaufstiege von München, 19.11.23, 13 Uhr MEZ (links) und Montag, 20.11.23, 01 Uhr MEZ (rechts)

Die Münchner Aufstiege befanden sich zu weit westlich der Gewitterzone und zeigen bereits das stärkere Absinken im Bereich des nachrückenden Höhenkeils. Im Mitternachtsaufstieg lag die Absinkinversion etwas höher, es stand mehr Labilität zur Verfügung. Die schwarze Linie markiert die gemessene Höhe der Gewitterwolken, die entsprechend bis zur Tropopause reichten (die Haupt-Tropopause lag deutlich höher, bei rund 200hPa in Jetniveau, ca. 12km Höhe). Über die gesamte Höhe fällt das markante Windprofil mit Sturmstärken auf, das auf starke vertikale Windscherung hinweist. Der Auftrieb im Gewitter setzt sich aus CAPE (Einheit J/kg) und Windscherung (Einheit m²/s², umgerechnet J/Kg) zusammen. Starke Gewitter sind daher auch bei minimalen CAPE möglich, wenn die vertikale Scherung dafür groß ist – und erklären Gewitterlinien und Tornados bei winterlichen Sturmtiefs.

Durch die hochreichende Labilität bis etwa 8500m Höhe konnte die Konvektion von der starken Windscherung profitieren. Das erklärt nicht nur Gewitter, sondern auch den kleinkörnigen Hagel oder Graupelschlag.

Satellitenbilder

Folgende Fronten sind nach bestem Wissen eingezeichnet, die tatsächliche Lage kann etwas variieren, aber es zählt das „big picture“:

In der Früh verlief noch alles programmgemäß: Warmfrontdurchgang mit Regen im Norden und Osten. Über Süddeutschland näherte ich bereits die Kaltfront mit niedrigeren Obergrenzen (trockene Luft in der Höhe):

RGB-Satellitenbild vom 19.11.23, 08 Uhr MEZ (Quelle)

Gegen Mittag dann der Kaltfrontdurchgang, nahezu strömungsparallel, was zunächst frontolytisch wirkte. Die Front verlor an Struktur, ist auch im Satellitenbild kaum zu erkennen.

RGB-Satellitenbild vom 19.11.23, 13 Uhr MEZ (Quelle)

Am Abend wird das Bild etwas chaotischer, da die Fronten insgesamt in Auflösung inbegriffen sind:

RGB-Satellitenbild vom 19.11.23, 20:30 Uhr MEZ (Quelle)

Daher ein Zoom ins Gebiet von Interesse:

Zoom auf Mitteleuropa, 20:30 Uhr MEZ (Quelle)

Die Lage der Jetachse ist durch die Cirrusbewölkung gekennzeichnet. Unmittelbar nördlich davon zogen um 20.30 Uhr MEZ gerade zwei größere Gewitterzellen durch. Der bläuliche Ton südlich der Jetbewölkung zeigt die wärmere Luftmasse im antizyklonalen Bereich des Jets an, mit steigender Tropopause. Pink und okker ist die Luftmasse in der Kaltluft, im zyklonalen Bereich (unter Tiefdruckeinfluss). Besonders auffallend der schmale Streifen mit okkerfarbenen Schauerwolken. Hier befand sich in etwa die PV-Anomalie (Potential Vorticity), ein Bereich mit verstärkter Hebung.

Im Wasserdampfbild wird diese PV-Anomalie noch deutlicher sichtbar:

Wasserdampfbild, 19.11.23, 20 Uhr MEZ (Quelle)

Die Gewitter entstanden alle vorderseitig der durchziehenden Anomalie auf der höhenkalten Seite des Jetstreams, aber noch in der bodennahen Warmluft, die von Norden her allmählich verdrängt wurde.

Hinter den Gewittern stieg der Luftdruck dann an, am stärksten ab 22 Uhr, was ebenfalls auf Kaltfrontgeschehen hinweist.

Beobachtungen

Zu Beginn der Gewitterbildungen gibt es ein durchaus repräsentatives Webcambild vom Flachgau und in Richtung oberösterreichischer Zentralraum, das eine Linie mit größeren Quellwolken zeigt. Auffallend ist hier die wie mit dem Lineal gezogene Wolkenuntergrenze – was typisch für Frontgewitter ist.

Webcambild vom Hochstaufen (Chiemgauer Alpen) mit Blick über Salzburg nach Nordosten, 19.11.23, 18.10 MEZ

Das Radarbild von 20 Uhr zeigt die Situation mit Gewittern entlang der Donau sowie im Industrieviertel mit mehreren kleinräumig starken Echokernen. Weiter nördlich, entlang der Böhmischen Masse bis zum Weinviertel und über der Westslowakei gab es ebenfalls Schauerstraßen. Sie waren näher an der Höhenkaltluft, aber – siehe oben – nicht mehr in der Zone mit den hohen bodennahen Taupunkten – weshalb es dort nicht für Gewitter reichte.

Radarprognose (5min) für Sonntag, 19.11.23, 20 Uhr MEZ (Quelle: kachelmannwetter.com)

War das vorhergesagt? JA.

Man darf derartige Modellrechnungen nicht 1:1 übernehmen, aber Fakt ist, dass der Morgenlauf von EZWMF mit der Prognose für 20 Uhr MEZ sehr wohl kleinräumig starke, konvektive Kerne gerechnet hatte, die auf erhöhte Gewitterneigung hinwiesen.

Das deutsche Lokalmodell hab ich mir leider nicht angesehen, es ist diesbezüglich normalerweise recht zuverlässig, was mesoskalige Konvektion betrifft.

Simulierte Radarreflektivität von EZMWF (19.11.23, 00 UTC-Lauf (Quelle)

Zusammenfassung

Aus der Zusammenschau der Daten wird deutlich, dass Kaltfrontgeschehen an der Entwicklung mehrere Gewitterstraßen in Ober- und Österreich am Sonntagabend beteiligt war. Nach Durchgang der Warmfront setzten sich vorübergehend höhere Taupunkte durch, die mit der Nähe zur Höhenkaltluft zu einer Labilisierung geführt haben. Obwohl die strömungsparallele Lage der Kaltfront in erster Linie abschwächend gewirkt hat, wurde die Hebung durch eine eingelagerte PV-Anomalie verstärkt und mit der Konvergenz in der Grundschicht ergab sich die linienhafte Struktur der Schauer und Gewitter. Mit der Jetachse über der labilen Zone herrschte zudem markante vertikale Windscherung, was organisierte Gewitter begünstigt hat. Überdurchschnittlich hohe PWAT-Werte und Cloud Tops bis -44°C Minimum deuten auf ungewöhnlich starke Vertikalbewegungen hin. Alleine an diesem Abend wurden 300 Blitzentladungen registriert, im ganzen November österreichweit schon über 1300 Entladungen, der höchste Wert seit Beginn der Messungen vor 15 Jahren.

Ein Gedanke zu „Gewitterstraßen im November: Selten, aber nicht unmöglich.

  1. Avatar von Andreas MeingaßnerAndreas Meingaßner

    Hallo Felix!
    Auch hier bei uns in Ottensheim gabs mit diesen Gewittern Hagel bis zu 1 cm. hab ich so im November bei uns auch noch nicht erlebt. 🙂

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