Fallstudie: Gewaltiges Donnergrollen am Samstagabend in Wien

Gewitter über Wien am 03. Mai 2025, 19.30 MESZ (c) Thomas Kumpfmüller, ACG

Dieser Tag bot allgemein eine spannende Gewitterlage und gleichzeitig den ersten 30er im Nordosten von Österreich in diesem Jahr (30,3°C in Poysdorf und Wien-City). Am Nachmittag zog eine erste Gewitterstaffel aus den Alpen heraus nordostwärts und querte Teile von Wien mit kräftigen Regengüssen und auflebendem Wind. Nach vorübergehender Beruhigung zog vor Sonnenuntergang vom Mostviertel her eine Gewitterlinie heran, die über bzw. östlich von Wien ihre maximale Intensität erreichte.

Während in den nördlichen Stadtteilen die Sonne schien und höchstens leichter Regen fiel, sorgten einige grelle Wolke-Erde-Blitze für sekundenlanges, lautes, sehr basslastiges Donnergrollen, bei denen sogar meine Gläser im Schrank klirrten. Die Auswertung der Blitzdaten – es handelt sich bei so lauten Blitzschlägen meist und hier durchwegs um positiv geladene Blitzentladungen – ergab über 10 Blitze mit einer Stromstärke von über 100kA. Der stärkste Blitz schlug um 19.31 Uhr nordöstlich von Groß-Enzersdorf ins Marchfeld ein – mit 466kA! Zum Vergleich: Gewöhnliche Blitzentladungen (meist negative Blitze) haben Stromstärken um 2-10kA.

Die Ursache dieser außergewöhnlich heftigen Blitzentladungen lag in der Struktur und Organisation der abendlichen Gewitterzellen – es handelte sich um sogenannte „elevated convection“ – also von der konvektiven Grenzschicht entkoppelte Aufwindbereiche, die durch dynamischen Hebungsantrieb entstanden sind.

Wetterlage

Vorderseitig des Höhentiefs vor Portugal wird labil geschichtete Warmluft (und eine Portion Saharastaub) in den Alpenraum advehiert. Von der Nordsee her nähert sich ein markanter Kurzwellentrog, der im Tagesverlauf die Höhenströmung über den Alpen intensiviert. In den breiten Keil von Nordafrika bis Balkan ist eine Delle eingelagert („Dellenkeil“), die von der Schweiz in der Früh bis Ostösterreich am Abend den Alpenraum von West nach Ost überquert.

500 hPa relative Topophie u.a., GFS-Analyse um 06 UTC

Um 20 Uhr schob der Trog von der Nordsee weiter an und intensivierte die vertikale Windscherung im Norden und Osten von Österreich:

In 300hPa wurden zum Zeitpunkt der zweiten Gewitterstaffel 50-60kt vorhergesagt, in 700hPa waren es ebenfalls rund 30-40kt und bodennah drehten die Winde rückseitig des Gewitterclusters teilweise auf schwache Südwinde zurück.

Luftmasse

Vor den ersten Gewittern war die Grenzschicht im gesamten Donauraum recht trocken mit hohen Taupunktsdifferenzen.

Radiosondenaufstieg Wien am 03. Mai 2025, 14 Uhr MESZ (kachelmannwetter.com)

Klassisches „inverted-V“-Profile, durchaus typisch für den Frühling. Dadurch zerfledderte der Gewittercluster beim Übergreifen ins Flachland. Dafür feuchtete er die Grenzschicht deutlich an, die Taupunkte stiegen am Boden auf rund 15 Grad, in 1500m Höhe (Rax) auf 8 Grad. Der Aufstieg ist bereits vor Ankunft des Kurzwellentrogs gut geschert ab etwa 700hPa Höhe. Flugzeug-gestützte Windmessungen (AMDAR) nach 21 Uhr zeigen über Ostösterreich rund 30-35kt in 600-700hPa und 40-50kt um 300hPa im Ambossbereich und bestätigen die starke, organisierte und mitunter gar rotierende Gewitterzellen begünstigende Windscherung.

In den Satellitenbildern

In den Wolkenphasen-Satellitenbildern der neuen Generation sah man um 13 Uhr die vorlaufende konvektive Auslösung über dem östlichen Bergland, gefolgt von einem breiten Cirrusgürtel, der auch Saharastaub vor sich herschob. Die wolkenarme Zone zwischen dem Cirrusband und der Front über dem Westen verlagerte sich bis in den Osten, mit immer schärferer Wolkenkante. Möglicherweise gab es hier ein ausgeprägtes Maximum potentieller Vorticity (Dipol-Struktur) bzw. Hebungszone, gefolgt von einer Absinkzone, vor der zweiten Hebungszone im Westen.

Um 14.50 Uhr MESZ bildete sich der erste Gewittercluster über dem östlichen Bergland mit vorlaufenden Einzelzellen im östlichen Flachland. Die zweite Staffel zerbröselte vorübergehend über Salzburg und Oberösterreich. Die Cirruskante intensivierte sich, eindeutig nicht in Zusammenhang mit der Gewitterbildung, also keine Ambosskante. Auch das deutet auf eine großräumige Dynamik (Vorticityanomalie) hin.

Quelle: kachelmannwetter.com (alle Satbilder)

Wir nähern uns der entscheidenden Phase für das Wien-Gewitter:

Um 17 Uhr bewegte sich der Cluster weiter ostwärts und hinterließ ein Starfleet Insignia ähnliches Wolkenloch. Südlich davon entstanden neue kräftige Zellen (hellblau, kleine Eiskristalle, starke Aufwinde). Westlich zog die Linie mit schwachen Schauern langsam weiter.

Bis zu diesem Zeitpunkt lag das Lokalmodell von ICON (D2) noch recht gut. Es hatte die vorlaufende starke Konvektion mit Schwerpunkt im Süden richtig prognostiziert, ebenso die schwächeren Zellen im Nordosten, die an der trockenen Grundschicht verendeten (und über der Slowakei wieder stärker wurden, außerhalb der Modelldomain). Die nachfolgenden Schauer der zweiten Staffel sollten jedoch viel schwächer ausfallen, etwa so wie in dem teilweise okker-rosafarbenen Breich über Österreich. Es kam anders, weil das Modell einen Faktor nicht eingerechnet hatte:

Die Verstärker Outflow Boundary

Gegen 17.30-17.40 Uhr löste sich von zusammenfallenden Zellen über dem östlichen Bergland eine sichtbare Outflow Boundary ab, die nach Nordwesten – also entgegen der Verlagerungsrichtung der nachfolgenden Konvergenzlinie (hier als schwarze Kaltfront dargestellt) zog.

Wenn man die Verlagerung der Boundary extrapoliert, dann fällt es in die explosive Verstärkung gegen 18.40 Uhr zusammen:

Vom Bezirk Lilienfeld (wo ich wenige Stunden zuvor noch gewandert bin) bis ins Tullner Feld bildete sich eine Gewitterlinie mit vielen frischen jungen Aufwindbereichen.

Die Blitzaktivität

Bereits vor der Ankunft der Gewitterzelle in Wien bildete sich ein hochreichender Gewitteramboss mit Cloud Top Temperature um -60°C. Das entspricht rund 11km Höhe. Der Amboss über dem Semmeringgebiet ist sogar knapp -70°C kalt. In beiden Fälle, bei Wien noch deutlicher, findet die größte Blitzaktivität nun an der Rückseite des Gewitters statt.

Cloud Top Temperatur Darstellung für 19 Uhr MESZ (kachelmannwetter.com – Sandwich-Darstellung)

Als es die besonders heftigen Knaller gibt, ist die Hauptblitzaktivität sogar weit entfernt – um 19.20 Uhr schlagen die meisten Blitze im Wienerwald ein – das sind die gefürchteten „Blitze aus heiterem Himmel“, hier in der Abendsonne bzw. mit ausgeschichteter Bewölkung. Allerdings ist hier die 10minütige Verzögerung der Blitzdaten zu berücksichtigen, also wohl nicht ganz so „heiter“, aber weiterhin eher rückseitig im ausgeschichteten Bereich der Ambosswolke (große vertikale Entfernung).

kachelmannwetter.com
Slowakisches Radar mit der Gewitterlinie um 19.20 MESZ

Die Struktur des Gewitters

Panomax vom Arsenalturm (19.20 Uhr MESZ) und Flughafen Schwchat (19.10 und 19.20) vom 03. Mai 2025

Der Niederschlagsbereich des Gewitters war offenbar sehr schmal, weshalb die Sonne von „hinten“ hineinscheinen konnte und nicht vollständig reflektiert wurde. Insbesondere der Aufzug vor Schwechat zeigt eine bogenförmige Struktur mit sehr hochbasiger Bewölkung und darüber (außerhalb des Bildes) dann die hochreichende Konvektion mit dem Amboss.

Bild vom Flughafen Richtung Westen, ca. 19.22 Uhr MESZ (Bild: Thomas Kumpfmüller, ACG)

Der schmale Aufwindbereich mit der Wolkenbasis erinnert schon sehr an eine LP-Superzelle gemeinsam mit dem riesigen, stromabwärts abgewehten Ambossbereich. Allerdings wurden mit den Gewittern kurzzeitig hohe Regenraten gemessen.

Wie begünstigt das die starke Blitzentladungen?

Positive Blitzentladungen entstehen typischerweise aus der Ambosswolke (Cumulonimbus incus), wo es einen positiv geladenen Bereich gibt. Je größer die Distanz zwischen Wolkenoberseite und Erdboden, desto größer die Ladungstrennung und die Blitzintensität der üblicherweise dann positiv geladenen Blitze.

Gewitter haben vereinfacht gesagt* eine tripolare Ladungsverteilung mit positiv geladenen Teilchen im Ambossbereich, einem breiten negativen Bereich in mittleren Höhen (zwischen -10 und -20°C) und einem kleinen positiven Bereich nahe der Nullgradgrenze. * die Realität ist noch etwas komplizierter (siehe diese Zusammenfassung mit netten Handskizzen).

Detail am Rande:

Messungen aus den Central Plains zeigen aber, dass dieses typische Modell nicht immer vorliegen muss. Dort treten positive Blitze deutlich häufiger auf und gehen auf ein umgekehrtes Elektrizitätsprofil zurück, das heißt, es gibt im unteren Wolkenbereich deutlich mehr positive Entladungen und nur eine schmale Schicht mit negativ geladenen Teilchen. Die Central Plains Gewitter wiesen demnach offenbar sehr hohen Flüssigwassergehalt auf. Zu den „inverted charge thunderstorms“ sind schon mehrere Arbeiten erschienen – siehe z.B. Rust et al. 2005, Yijun et al. 2014, DiGangi et al. 2022, Li et al. 2023.

Diesen Spezialfall sehe ich hier jetzt nicht, weil die positiven Blitze klar an der Gewitterrückseite aus dem Amboss heraus stattfanden, aber trotzdem interessant zu wissen. Insbesondere Gewitter im Reife- oder Zerfallstadium verändern ihre Ladungsstruktur: Die negativ geladene Region kann sich abschwächen oder nach oben verlagern. Dadurch treten mehr positive Blitzschläge auf. Starke Aufwinde können außerdem die positive Ladung im Ambossbereich erhöhen. In stark gescherten Umgebungen, wenn die Gewitter geneigt werden, können sich die Ladungsregionen auch horizontal trennen. Dadurch können Blitze weit entfernt vom Gewitter einschlagen „aus heiterem Himmel“ – bis zu 30km vom Gewitterkern entfernt wurden schon beobachtet!

Zusammenfassung und Diskussion

Über dem Alpenraum lag am Samstag eine labil geschichtete Luftmasse, die mit einem durchziehenden Kurzwellentrog („Dellenkeil“) aktiviert wurde. Dabei bildeten sich zwei Gewitter-Staffeln aus. Nach der ersten Gewitterzone am späten Nachmittag kam ein ausgeprägter Absinkbereich mit wolkenarmen Himmel und erneuter Einstrahlung bei nun höheren Taupunkten in Ostösterreich, wodurch der surface-based CAPE angestiegen ist. Die zweite Staffel zog in Verbindung mit der Kurzwellentrogachse unter Abschwächung ostwärts. Neben der gestiegenen Labilität bewirkte aber eine Outflow Boundary am Alpenostrand, die sich nordwestwärts verlagerte, eine nochmalige Intensivierung der zweiten Staffel. Diese profitierte außerdem von der Zunahme der Höhenströmung im Nordosten durch die Annäherung des markanten Nordseetroges.

Zum Zeitpunkt der intensiven Blitzschläge waren also erhöhte Labilität, Hebung und Windscherung vorhanden. CB-Tops von -60°C (ca. FL350) bestätigen die intensiven Aufwinde beim Durchzug über das Wiener Stadtgebiet und Umgebung. Das äußere Erscheinungsbild deutet auf elevated und mitunter organisierte Gewitterbildung hin, mit hohen Wolkenbasen, bogenförmiger Vorderkante und schmalem Aufwindbereich, fast superzellenartig (ohne Rotation direkt oder indirekt belegen zu können). Die Mehrheit der registrierten Blitzentladungen war negativ, rund neun Blitzentladungen erreichten Stromstärken über 100kA. Die starke Aufwindintensität und die geneigte Gewitterwolke durch die Scherung haben erhöht positiv geladene Teilchen im Ambossbereich vermutlich begünstigt und so zu besonders intensiven Blitzschlägen geführt.

Die gemessenen 466kA im Marchfeld sind wahrscheinlich ein neuer Österreich-Rekord – bis dahin war der stromstärkste Blitz am 6. Juni 2015 in Kramsach, Tirol, mit 399kA. Blitzstärke-Aufzeichnungen gibt es jedoch erst seit 1991 (Blitzortungssystem ALDIS).

Unklar bleibt, ob die zwischenzeitliche Anfeuchtung der Grundschicht (höherer Flüssigwassergehalt im Aufwindbereich) hier eine bzw. die entscheidende Rolle gespielt hat bzw. eine inverted charge structure kurzzeitig vorgelegen haben könnte. Für Blitzphysik bin ich aber kein Experte.

2 Gedanken zu „Fallstudie: Gewaltiges Donnergrollen am Samstagabend in Wien

  1. Avatar von franzzeilerfranzzeiler

    In Thenneberg wurden am Abend die Quellungen der Gewitterrückseite von der Sonne eindrucksvoll in Szene gesetzt:
    In der Quellwolke konnte ich zahlreiche Blitze beobachten und fernes Donnergrollen war zu hören.
    LG, Franz

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